Mittwoch, 18. Oktober 2023

Dringender Handlungsbedarf beim elektronischen Patientendossier (EPD)

Für uns Grünliberalen ist die Gesetzesvorlage ein Denkanstoss in die richtige Richtung, geht aber nicht weit genug. Es fehlt der Wille für grosse Würfe. Der jetzige Revisionsentwurf muss grundlegend verbessert werden.

Das Schweizer Gesundheitssystem besitzt grossen Reformbedarf. Wir wollen ein Gesundheitssystem, das eine gute und bezahlbare Versorgung der ganzen Bevölkerung sicherstellt. Doch die steigenden Gesundheitskosten und den Fachkräftemangel beobachten wir mit Sorge. Eine gut durchdachte Digitalisierung ist ein zentrales Element, um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, den administrativen Aufwand zu reduzieren respektive zu (teil-) automatisieren und die Qualität der medizinischen Versorgung insgesamt zu steigern. Darin spielt ein elektronische Patientendossier (EPD) eine tragende Rolle, um Gesundheitsinformationen langfristig abzulegen sowie effizient und fehlerfrei an die involvierten Leistungserbringer zu übermitteln. Die gegenwärtige Implementierung des EPD ist jedoch noch weit weg von einer modernen und nutzungsorientierten Lösung. Obwohl die stationären Leistungserbringer zu einer Teilnahme verpflichtet sind, nutzen zum jetzigen Zeitpunkt nur rund 40% der Spitäler und 30% der Altersheime das EPD. Wir müssen jetzt einen grossen Schritt wagen und beim EPD vorangehen, für die Gesundheit von uns allen. Es braucht einen klaren Willen, ein datenbasiertes und nutzungsorientiertes EPD aufzubauen, anstatt am jetzigen Model herumzubasteln.

Für uns Grünliberalen ist die Gesetzesvorlage ein Denkanstoss in die richtige Richtung, geht aber nicht weit genug. Es fehlt der Wille für grosse Würfe. Der jetzige Revisionsentwurf muss grundlegend verbessert werden. Wir brauchen eine Lösung, welche sowohl von den Leistungserbringer, aber auch der Bevölkerung getragen wird. Das heisst, sie muss eine grosse Verbesserung und Vereinfachung in der täglichen Arbeit im Gesundheitssektor darstellen und gleichzeitig das Vertrauen der Bevölkerung mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen und Ansichten gewährleisten. Um eine effiziente Nutzung und Weiterentwicklung des EPD zu gewährleisten, sind funktionale Standards für Daten und Schnittstellen zu definieren. Zudem ist den jeweils involvierten Leistungserbringer der Zugang zum EPD zu gewähren. Nur solche erlauben eine systematische und effiziente Erfassung und Verarbeitung von strukturierten Daten. Der Bund ist in der Pflicht, gemeinsam mit den Leistungserbringern solche Standards und Schnittstellen zu definieren. Ansonsten ist davon auszugehen, dass das EPD trotz Pflicht weiterhin keine Anwendung findet. Zudem haben wir zu einzelnen Punkten Bedenken, insbesondere der Opt-Out-Lösung in der vorgeschlagenen Ausgestaltung, der Speicherung von strukturierten Daten und der Zugänglichkeit.
 

Finanzierung und Bund in der Führungsrolle

Eine nachhaltige und tragende Finanzierung des EPD und seiner Weiterentwicklungen ist von grosser Bedeutung. Wir unterstützen den Vorschlag, die Finanzierung des EPD an die Kantone und die Finanzierung der Weiterentwicklungen an den Bund zu übergeben. Letzteres gibt dem Bund die Führungsrolle, er steht in der Verantwortung für eine koordinierte und zielgerichtete Weiterentwicklung und Einführung von Standards für das EPD unter Einbindung der Leistungserbringer.

Die Verwaltung und Weitergabe der Daten dürfen einzig auf den gesetzlichen Bestimmungen und den Wünschen der betroffenen Personen beruhen. Es ist daher sicherzustellen, dass die Frage, ob und wie Daten genutzt werden, keinen Einfluss auf die finanzielle Situation der Betreiberin haben darf, da es sonst zu schwerwiegenden Fehlanreizen kommt. Die Kantone müssen eine entsprechend verlässliche Finanzierung gewährleisten. Ohne diese ist es nicht absehbar, wie die Bevölkerung je Vertrauen in das EPD aufbauen könnte.
 

Opt-Out, Datennutzung und Vertrauen

Die aktuelle tiefe Verbreitung des aktuellen EPD wird oft mit dem Opt-In-Prinzip in Verbindung gebracht. Unserer Meinung nach sind aber komplizierte Onboarding-Prozess, die ungenügende Nutzung seitens Leistungserbringer und der Mangel an direktem Nutzen für die Bevölkerung mindestens so wichtig. Den geplanten Wechsel zu Opt-Out begrüssen wir grundsätzlich, um die Nutzung des EPD in der Bevölkerung voranzutreiben. Jedoch sehen wir ein Opt-Out-Modell in der vorliegenden Ausgestaltung kritisch, insbesondere wenn der Nutzen noch fehlt. Die grundsätzliche Speicherung anfallender Daten, bereits, bevor die Betroffenen sich für eine Teilnahme am EPD oder einem Opt-Out entscheiden, ist nicht vertretbar. Das führt dazu, dass grosse Mengen an Daten anfallen, die einerseits (noch) keinen Nutzen entfalten, andererseits aber bereits ein Gefahrenpotential im Falle eines Datenlecks darstellen.

Wir regen im Gegenzug ein On-Demand-System an. Das heisst, es wird für alle Einwohnerinnen und Einwohner ein leeres Dossier erstellt, aber noch nicht befüllt. Da alle Dossiers im Grundsatz schon bestehen, sollte der On-Boarding-Prozess viel einfacher sein. Die Aktivierung geschieht auf Wunsch des Betroffenen. Dazu sollen diese bei der nächsten Behandlung, Konsultation etc. aktiv aufgefordert werden, sich zu entscheiden, wie sie ihr EPD nutzen wollen. Sofern sie sich nicht entscheiden, bleibt das Dossier leer, aber bereit für eine spätere Aktivierung. Die Barrierefreiheit ist dabei zu gewährleisten.

Bezüglich Datennutzung sind wir der Meinung, dass kein einzelnes System je eine namhafte Mehrheit der Bevölkerung überzeugen kann. Ein ‘One-Fits-All-Ansatz' oder ein einfaches Ja-Nein wird in der Bevölkerung nie eine Mehrheit finden. Wir schlagen daher einen anderen Ansatz vor. Bei der Aktivierung des eigenen EPD soll der Bevölkerung eine Auswahl von verschiedenen Profilen vorgeschlagen werden. Diese Profile definieren in leicht verständlicher Art ein Spektrum von Grundsätzen, wie ihre Daten künftig genutzt werden. Auf der einen Seite wäre ein Profil, bei dem alle Daten möglichst rasch gelöscht und nur, wo gesetzlich zwingend vorgegeben, geteilt werden. Auf der anderen Seite des Spektrums würden sich die Personen wiederfinden, die selbst der Nutzung von sehr persönlichen Daten zugunsten Forschung und Entwicklung (auch kommerzieller Produkte) zustimmen. Weitere Profile könnten zwischen kommerzieller Nutzung und universitärer Forschung oder anderen Fragestellungen (Teilnahme an Studien und Umfragen …) unterscheiden. So könnte jeder und jede ein geeignetes Profil wählen, das den eigenen Bedürfnissen (nahezu) entspricht. Natürlich sollte nach wie vor die Möglichkeit bestehen, die Nutzung noch detaillierter zu steuern. Es ist aber davon auszugehen, dass die wenigsten diese Möglichkeit nutzen werden, sondern bei einem (unverändertem) Standardprofil bleiben. Für Leistungserbringer leiten sich daraus die ihnen zugänglichen Daten im EPD ab, was die Arbeit erleichtert.

Mit einem solchen Ansatz können das Vertrauen der Bevölkerung einfacher gewonnen und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingegangen werden. Zudem kann damit das Opt-Out in der Form des restriktivsten Profils aufgenommen werden, was die Administration dieser Personen aufgrund des (nahezu leeren) EPDs erleichtert.

 

Dezentrale Datenspeicherung

Der Wunsch des BAG zur zentralen Speicherung von strukturierten Gesundheitsdaten ist nachvollziehbar, muss aber vorsichtig angegangen werden. Einerseits ist die zentralisierte Speicherung von Daten anfälliger für Angriffe und Fehler. Andererseits sind auch nicht alle strukturierten Daten gleich schützenswert. Wir fordern den Bund auf, die dezentrale Datenspeicher für die strukturierten Daten zu prüfen, um eine sowohl sichere als auch effiziente Nutzung der Daten zu ermöglichen. Insbesondere soll dabei geprüft werden, ob die Daten getrennt nach dem Grad ihrer Schützenswürdigkeit gespeichert werden können.
 

Zugang zum EPD

Das EPD funktioniert nur, wenn alle relevanten Akteur:innen das EPD verwenden und den Zugang zu den jeweils benötigten und für sie freigegebenen Gesundheitsdaten haben. Einerseits muss darum ein Nutzungsobligatorium für Leistungserbringer auch durchgesetzt werden können. Andererseits muss die Privatsphäre geschützt und ein Missbrauch und eine Diskriminierung durch die Daten verhindert werden. Es ist daher von grosser Bedeutung, dass eine Anschlusspflicht für die ambulant tätigen Leistungserbringer eingeführt wird. Für Krankenkassen muss ein begrenzter Zugang zu einzelnen Daten, welche für eine effiziente Abrechnung nötig sind, geprüft werden. Ein Zugang für externe Zusatzdienste zum EPD muss ebenfalls mit grosser Vorsicht vorgenommen werden. Die von den Zusatzdiensten hinzugefügten Daten müssen genügend strukturiert und nutzbar sein. Gleichzeitig muss der Zugriff in Abhängigkeit der Schützenswürdigkeit der angeforderten Daten klar definiert und entsprechend eingeschränkt werden. Der oben erwähnte Ansatz von Profilen würde hierbei auch helfen, zwischen den verschiedenen Ansprüchen zu differenzieren